Zunächst möchte ich hier die acht Yoga-Glieder von Patañjali nochmals benennen. Sie sind im Yoga-Sūtra im 2. Kapitel साधनपाद Sādhana-Pāda in den Versen 27 bis 55 sowie im 3. Kapitel विभूतिपाद Vibhūti-Pāda in den Versen 1 bis 3 näher erläutert. Hier nur eine Übersicht über die 8 (aṣṭanga) Glieder:
PYS: 2.29 यम नियमासन प्राणायाम प्रत्याहार धारणा ध्यान समाधयोऽष्टावङ्गानि ॥२९॥
yama niyama-āsana prāṇāyāma pratyāhāra dhāraṇā dhyāna samādhayo-'ṣṭāvaṅgāni.
· yama = Regeln im Umgang mit anderen (35 – 39)
Die folgenden fünf Yama-Übungen sind wie Wegweiser, die uns erkennen lassen, ob wir uns auf dem richtigen Weg befinden:
· ahimsā: Gewaltlosigkeit
· satya: Wahrhaftigkeit
· asteya: Nicht-Stehlen
· brahmacarya: reiner Lebenswandel, im Bewusstsein des Höchsten weilen
· aparigrahā: Nicht-Horten, Nicht-Besitzergreifen
· niyama = Regeln im Umgang mit dir selbst (40 – 45)
Die fünf Regeln des niyama betreffen nur den Übenden selbst, für den Weg, dem er freiwillig folgt:
· śauca: Reinigung, Reinheit der Seele
· saṃtoṣa: Zufriedenheit, Genügsamkeit
· tapas: Disziplin, Motivation, Für-etwas-brennen
· svādhyāya: Selbststudium, Selbstreflektion
· īśvara praṇidhāna: Hingabe an das Höchste, an das Leben
Die drei letzten Punkte tapas-svādhyāya- īśvara praṇidhāna zählen auch zum kriya-yoga.
· āsana = Körperhaltung, Sitz (46 – 48)
Die Übung der Körperhaltungen sollte drei Qualitäten aufweisen:
· sthira – sukha: die Körperhaltung soll stabil und leicht zugleich sein. Diese Haltungsqualität von Stabilität und gleichzeitiger Leichtigkeit kann nur durch regelmäßige Übung erreicht werden.
· prayatna śaithilya ananta samāpatti: Dazu braucht es erst einmal die Überwindung der Trägheit. Die dabei aufgewendete Kraft sollte nur mit der dafür notwendigen Anspannung erfolgen. Der Geist ist voll konzentriert bei der Übung und dem Atem.
· dvaṅdvā: Dadurch wird der Körper stabil und widerstandsfähig.
prāṇāyāma = Atemregulierung (49 -52)
Der Atem oder die Regulierung des Atems ist das zentrale Thema unter den 8 Übungsgliedern des Yoga-Weges und bringt uns ein Stück in die Tiefe unseres Wesens. Prāṇāyāma entfernt die Schleier, die das innere Licht verhüllen und bildet die Fähigkeit zur Konzentration aus. Der Atem ist gekennzeichnet durch folgende Qualitäten:
· dirgha - sukṣma: der Atem wird lang und fein geführt;
· deśa – kala – samkhya: die Ausatmung, die Einatmung, das Anhalten des Atems nach der Ausatmung und nach der Einatmung können verlängert werden. Durch die Atemregulierung wird der natürliche Atem sehr ruhig, der Geist und die Gedanken erfahren eine ruhige Stimmung, die Wahrnehmung wird schärfer. Die Konzentration ist auf ein Thema, auf einen Punkt oder auf ein Objekt festgelegt. Der Übergang zu pratyāhāra erfolgt fließend.
· pratyāhāra = Zurückziehen der Sinne (54, 55)
Unsere Sinne sind wie offene Türen: sie lassen nützliche und störende, erwünschte und unerwünschte Informationen hinein.
Zu den Sinnen zählen:
® Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken, Riechen
® Sprechen, Gestalten (mit den Händen), Gehen (mit den Füßen), Verdauen,
sexuelle Zusammenkunft
Durch sehr feine Übung mit den Sinnen können die Sinnesfunktionen zum Diener des citta werden. Die Sinnesorgane werden zu Instrumenten, die dem citta dienen und nicht der äußeren Welt. Eine gute Vorbereitung dazu ist die Atemführung. Das führt allmählich dazu, dass die Sinne nach innen gerichtet werden und die drei nächsten Stufen können angegangen werden oder folgen wie von selbst.
· dhāraṇā = Konzentration (3.1)
Die letzten drei Übungsglieder werden Saṃyama genannt. Sie erfordern sehr subtiles Üben und setzen bereits große Fertigkeiten beim Übenden voraus. Wenn Disziplin/Übung fehlt, der Atem unkontrolliert ist oder die Sinne zerstreut sind, können die drei letzten Übungsglieder kaum Erfolg versprechen. D. h. tiefe Konzentration entsteht, wenn Fühlen und Denken sich länger auf ein bestimmtes Thema ausrichten können und dabei verschmelzen.
· dhyāna = Versenkung, Meditation, Kontemplation (3.2)
Diese fortwährende Konzentration führt allmählich zum Zustand der Meditation, das stille Reflektieren beginnt.
· samādhi = Ekstase, Ziel des Yoga, Erleuchtung, überbewusster Zustand (3.3)
Desikachar beschreibt diesen Zustand so: [1]
"Entwickelt sich der Prozess in dieser Weise weiter, dann ist ein Mensch so sehr mit dem einen Objekt verbunden, dass nur noch dieses Objekt in ihm aufleuchtet. In diesem Zustand erscheint es, als ob der Mensch das Empfinden für seine eigene Person verloren hat, das ist samādhi, die vollständige Vereinigung mit dem, was verstanden werden soll.“
[1] Desikachar (42009: 98)
Alle acht Glieder bilden eine untrennbare Einheit. Ich kann diese Einheiten gleichberechtigt nebeneinander stellen oder als Stufen einer Treppe betrachten, die mich nach oben zu einem Ziel führen. Treppensteigen ist immer mit körperlicher Anstrengung verbunden, der Atem wird dabei tiefer, Luft wird benötigt. Ich gehe langsam, aber sicher eine Stufe nach der anderen nach oben, mein Ziel fest im Visier. Dieses Ziel trägt mich, hält mich, gibt mir Kraft zum Weitergehen. Es gibt auch Verschnaufpausen, breitere Stufen, auf denen ich länger verweilen muss oder kann, weil es mir schwer fällt im Moment weiter zu gehen, weil ich vielleicht mein Ziel aus den Augen verloren habe oder aber weil es mir dort gerade recht gut gefällt und Aufgaben erledigt werden müssen. Aber nach längerem Verweilen oder innehalten, nach dem Erledigen aller Aufgaben, wenn der Atem sich erholt, der Geist und der Körper nichts mehr zu tun haben, taucht das Ziel am Horizont wieder leuchtend klar auf. Ich habe wieder Kraft, um weiter zu gehen, genieße den immer besser werdenden Ausblick und Überblick, es stellt sich eine Glückseligkeit ein, dem Ziel immer näher gekommen zu sein.
Jetzt kann mich nichts mehr aufhalten. Ich finde meinen Rhythmus im Weitergehen, genieße jede Veränderung, die sich auf jeder neuen Stufe ergibt. Natürlich gibt es auch Hindernisse auf diesen Stufen, die mich aufhalten. Am Anfang ist es schwierig mit diesen im Weg liegenden Brocken umzugehen, aber mit der Zeit lerne ich auch diese Hindernisse in mein Leben zu integrieren, werde immer geübter im Umgang mit Problemen und deren Lösungsfindung. Die Hindernisse (Kleśas) sind im Yoga-Sūtra unter 2.3 – 2.16 benannt und näher beschrieben[1]:
अविद्यास्मितारागद्वेषाभिनिवेशः क्लेशाः ॥३॥
avidyā-asmitā-rāga-dveṣa-abhiniveśaḥ kleśāḥ
Die Kleśas [die störenden Kräfte] sind Avidyā, die Verwechslung, Asmitā, die Selbstbezogenheit,-Rāga, die blinde Zuneigung, Dveṣa, die blinde Abneigung und Abhiniveśa, die unbegründete Angst.
Erläuterung:
Sich täuschen, die Dinge selbstbezogen sehen, zwanghaft von etwas angezogen sein oder eine Abneigung gegen etwas hegen und sich grundlos ängstigen – das sind tief sitzende störende Neigungen.
[1] Sriram (22003: 97)
Die Kleśas sind Teil unseres Lebens. Niemand kann vor ihnen die Augen verschließen. Nur durch das bewusste Wahrnehmen dieser störenden Kräfte verlieren diese ihre Intensität und ihre Leid auslösende Wirkung. Dieses bewusste Wahrnehmen wird im achtgliedrigen Weg des Yoga eingeübt. Durch mein Treppengleichnis sind Stufen entstanden, hier steht nicht unbedingt jede Stufe für ein Glied dieses Weges: auf jeder neuen Stufe, vielleicht auch Lebensstufe wollen alle acht Glieder wieder von neuem angeschaut, nochmals beübt und erfahren werden. Die Stufen durchdringen sich gegenseitig, stehen gleichwertig nebeneinander, wollen alle gleichzeitig in den Yoga-Weg integriert werden.
Das ist für mich der achtgliedrige Weg in meiner Yoga-Praxis: Täglich neu auf die Matte zu gehen, jeden Tag bewusster und achtsamer mit mir selbst, mit meinen Mitlebewesen umgehen, mich von unschönen Lebensstürmen nicht umwerfen lassen, ein klares Ziel vor Augen haben. Dabei unterstützt mich jeder einzelne der acht Schritte, jedes der acht Glieder oder jede der acht Stufen, je nachdem wie man sie benennen oder sehen mag. Keines kann für sich allein stehen oder nützlich sein, sie müssen und sollen ineinander greifen, die Grenzen sind fließend. Die Erfahrung auf jeder Stufe wertvoll und bunt.
Foto: Ute Prell, Istanbul 2014